att theaterproduktion
 
Angela Richter: Die Schönen und Verdammten 3: Der Kirschgarten
Theaterstück von Anton Tschechow 
 
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Foto: Pit Sauerwein
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  • Regie: Angela Richter
  • Künstlerische Beratung: Steffi Bruhn
  • Bühne: Christiane Blattmann, Holger Duwe
  • Kostüme: Steffi Bruhn, Andrea Polewka
  • Musik: Dirk von Lowtzow
  • Dramaturgie: Jens Dietrich
  • Chorleitung: Uschi Krosch
  • Produktionsleitung: Andrea Tietz / att
  • Regieassistenz: Andrea Polewka
  • Regiehospitanz: Anne Döring
  • Kostümhospitanz: Nina Schwerdtmann
  • Darsteller:  Kristina Brons, Yuri Englert, Antonia Holfelder, Eva Löbau, Oana Solomon, Christoph Theußl, Tammo Winkler
  • Chor: Silke Boehncke, Margot Brons, Renate Büsing, Percy Circhosz, Uta Graubaum, Werner Hemshorn, Elisabeth Hoja, Mascha Massann, Yvonne Meyn, Barbara Milde, Pehúen Naranjo, Carola Siepmann, Manuela Sharama, Ursula Stieglitz, Bärbel Toboll, Barbara Wilde
  • Dauer: 1 ½ Stunden
  • Premiere: Mi, 12.12.2007 Kampnagel, Halle K 2
  • Weitere Vorstellungen: Fr. 14.12. – So. 16.12.
    und Do. 20.12

Eine Koproduktion von Kampnagel mit Angela Richter, gefördert durch die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg in Zusammenarbeit mit att.

Endlich! Nach den gefeierten und vieldiskutierten Inszenierungen „Magic Afternoon“ und „Verschwör Dich gegen Dich“ bringt die Hamburger Regisseurin und Intendantin der Fleetstreet Angela Richter auf Kampnagel den dritten und abschließenden Teil ihrer Trilogie „Die Schönen und Verdammten“ auf die Bühne und widmet sich erneut der Zerfallssehnsucht und dem Zelebrieren des Untergangs. 

„Der Kirschgarten“, 1904 kurz vor Tschechows Tod entstanden, zeigt die Konfrontation einer dekadenten, selbstverliebten Gesellschaft mit der neuen Zeit, in der rationale Wirtschaftlichkeit das Maß der Dinge ist. Die Gutsbesitzerin Ljubov Ranjewskaja kehrt nach einem fünfjährigen Parisaufenthalt zurück zu ihrem Gut nach Russland. Sie hatte ihre Heimat verlassen, nachdem ihr Mann und ihr Sohn gestorben waren und das Geld des verstorbenen Mannes zur Finanzierung ihres aufwändigen Lebensstils genutzt. Das Gut, ein alter, erinnerungsschwerer Familiensitz, zu dem ein riesiger Kirschgarten gehört, muss versteigert werden, da der ökonomisch unfähige Bruder die Zinsen für aufgenommene Kredite nicht zahlen kann. Ranjewskaja ist verzweifelt, doch eine wirkliche Trauer will nicht aufkommen – und also auch keine Motivation, sich mit ganzer Kraft zu bemühen, das Gut zu retten. Der Sohn des ehemaligen Leibeigenen, der Kaufmann Lopachin, rät ihr immer wieder dazu, den Garten zu verkaufen und auf dem parzellierten Gelände Sommerdatschen errichten zu lassen. Damit wäre man aus allen Geldnöten heraus.

Angela Richter entkernt und komprimiert das Stück, um hinter jene Wahrheit des Textes zu kommen, die jenseits einer rein sozialen, illustrativen Interpretation liegt. In der  Unfähigkeit der Protagonisten, ihre  Situation zu erkennen, scheint die Macht der Sprache zu schöner Lüge auf. So befreiend kann die Niederlage sein, so faszinierend der eigene Ruin, so unterhaltsam die Kapitulation. Wie bereits beim zweiten Teil der Trilogie hat der Tocotronic Sänger Dirk von Lowtzow Songs geschrieben, die von einem 20-köpfigen Chor interpretiert werden und wie drohende Ungewitter über den Szenen hängen und zeigen, wie schön der Untergang klingen kann.
Pressestimmen
Mit dem Rentner-Chor in den Untergang 
Von Susann Oberacker

So was! Da wird uns ein west-östlicher Zusammenprall angekündigt, und dann bekommen wir wieder nur die Hälfte. Einen amerikanischen und einen russischen Text hatte sich Angela Richter für den dritten Teil ihrer Trilogie "Die Schönen und Verdammten" gesucht: F. Scott Fitzgeralds gleichnamiger Roman sollte auf Anton Tschechows "Der Kirschgarten" treffen. Doch dazu kam es nicht. Der Russe gewann bereits im Probenprozess. Und so gab’s auf Kampnagel, in der Fabrik für freies Theater, Tschechow pur – neu angerichtet von Angela Richter.
Die Regisseurin, im "Nebenjob" Leiterin des kleinen Theaters Fleetstreet, gehört in der Hansestadt gemeinsam mit ihrem Mann, dem Erfolgsmaler Daniel Richter, zur künstlerischen Elite. Dritter in diesem Bohème-Bunde ist der Hamburger Maler Jonathan Meese, der für die ersten beiden Teile der Richter-Trilogie die Bühnenräume kreiert hat – 2005 für "Magic Afternoon" von Wolfgang Bauer und 2006 für "Verschwör dich gegen dich" nach dem Film "Love Streams" von John Cassavetes.
Im Netz der Vergangenheit
Diese künstlerischen Partnerschaften sind für die Inszenierungen von Angela Richter ebenso bedeutsam wie die Zusammenarbeit mit dem Musiker Dirk von Lowtzow von "Tocotronic": Unverwechselbare theatralische Gesamtkunstwerke sind das Ergebnis.
Meese hatte diesmal keine Zeit. Also hat Steffi Bruhn das Ausstattungskonzept entworfen. Umgesetzt haben es Christiane Blattmann und Holger Duwe (Bühne) sowie Andrea Polewka (Kostüme). Herausgekommen ist eine Art Spinnennetz, in dem ausgestopfte Tierköpfe und Schädel hängen.
Hier verstricken sich Tschechows Figuren anschaulich in der Vergangenheit, um dort förmlich zu erstarren. Das Motiv der Lethargie soll dabei die Russen der Jahrhundertwende mit dem modernen Menschen der westlichen Wohlstandswelt verbinden und gleichzeitig die Klammer sein, die alle drei Stücke der Trilogie zusammenhält. Die Aktualität des Tschechow-Dramas ergibt sich damit quasi von selbst.
Und so lässt es Angela Richter auch ganz klassisch beginnen: Lopachin (Yuri Englert) und Varja (Kristina Brons) warten auf die Rückkehr der Gutsbesitzerin Ranevskaja (Oana Solomon). Zwei, die nicht so ganz dazugehören. Er ist zwar ein reicher Kaufmann, stammt aber von Leibeigenen ab. Und sie ist die "arme Verwandte", die Pflegetochter der Ranevskaja. Sie tritt gemeinsam mit ihrer leiblichen Tochter Anja (Eva Löbau) und ihrem Bruder Leonid (Christoph Theuß) aus einem grellen Nichts in den Spinnenwebenraum.
Schnaps und Schnorrer
Dass mit der Familie nicht mehr viel los ist, sieht man auf den ersten Blick: Bis auf Lopachin tragen alle Unterhosen. Sie bemerken weder diese Lächerlichkeit noch die Krise, in der sie stecken – der Kirschgarten ist ein Verlustobjekt, die Familie verschuldet, das Anwesen zur Versteigerung ausgeschrieben. Und nuSSSn?
Angela Richter stellt zwei Lebensentwürfe deutlich gegenüber: Hier der rastlose Lopachin, der als einziger vorausschauend eine Lösung aus der Misere sucht und findet; dort die dümmlich-arroganten Geschwister Ranevskaja und Leonid, die nichts sehen, nichts hören und nichts tun, aber viel reden. Warum, bitte, sollte man sich in Bewegung setzen? "Denn sterben muss man ja doch."
Also feiern sie den Untergang – mit Alkohol, Knabberzeug und einem Rentner-Chor, der die Rocksongs von "Tocotronic" auf seine Weise interpretiert. Ab und an geht mit Angela Richter dabei der Schalk durch, wenn etwa die Rentner als "Schnorrer" rausgeschmissen werden: "Jeder kriegt noch’n Keks, und dann ab in die Busse." Ein älterer Herr nahm das in der Premiere zum Anlass, den Saal zu verlassen.
Kammerspieldichte und Gegenwartsbezug 
Weitere Abgänge gibt es nicht zu vermelden. Denn der Rest ist ordentlich ernsthaftes Schauspieltheater. Mit einem bestens besetzten Ensemble, an dessen Spitze Oana Solomon und Yuri Englert stehen. Ihnen gelingt es, nicht in Sentimentalität zu verfallen, sondern amüsiert Distanz zu wahren, ohne ihre Figuren zu verraten.
Dennoch, braucht man diesen x-ten "Kirschgarten" überhaupt? Aber ja doch! Denn Angela Richter zeigt mit Tschechows Stück aus dem Jahre 1904 wie frau modernes Theater im Jahre 2007 macht: Sie hat das Werk auf 100 Spielminuten zusammengerafft und die Personage von zwölf auf sieben reduziert. So entsteht eine Dichte von kammerspielartiger Qualität. Gleichzeitig verzichtet die Regisseurin auf eine platte Aktualisierung, sondern schafft allein durch das zeitgemäße Spiel den selbstverständlichen Bezug zur Gegenwart. Und so geht Tschechow uns (wieder) an.


Hamburger Morgenpost, 12.12.2007